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Seit wann geht es bei sportlichen Großveranstaltungen um den Sport? Einsichten einer Trainerin

„Wir sind Europameister!“ – für uns Deutsche wird es in diesem Jahr nicht mehr dazu kommen. Aber wir hätten Europameister werden können! Das haben wir eine Zeit lang gehofft, gewünscht, gefühlt oder zumindest mehr oder weniger engagiert beobachtet.

Und auch wenn der Traum vom Titel ausgeträumt ist, in diesem gemeinsamen Erleben der vergangenen Tage und Wochen gibt es etwas, das bleibt und das wir auch auf Teams in Unternehmen übertragen können, die nicht nur alle 4 Jahre, sondern tagtäglich Meister in dem zu sein versuchen, das sie tun.

Neurowissenschaftlich passieren bei sportlichen Großereignissen höchst spannende Dinge, und die haben eben ganz und gar nichts (nun ja, nicht nur) mit Sport zu tun. Wenn wir uns die einmal vor Augen führen, können wir enorm viel über uns, unseren Teamgeist und unsere Stärken lernen. Und wie wir Teams in Unternehmen dabei unterstützen können, meisterlich zusammenzuarbeiten.

Die Kraft des gemeinsamen Erlebens

Aus der Forschung wissen wir, wie wichtig gute Beziehungsgeflechte, gemeinsame Erlebnisse und auch das gemeinsame Leiden, beispielsweise bei Niederlagen, sind. Sport kann unsere Stimmung beeinflussen, und zwar nicht nur, wenn wir selbst aktiv sind. Da Fußball der weitverbreitetste Breitensport ist, er – unabhängig von Bildungsschicht und Gehaltsstruktur – unkompliziert auch mit Tennisball oder Steinen gespielt werden kann und zudem auch noch in den Medien extrem präsent ist, erleben wir mit ihm einen Teil der Gesellschaft und uns selbst als Teil dieser Gesellschaft.

Fakt ist: Fußball begeistert Millionen Menschen weltweit. Allein in Deutschland haben laut Statista die ersten 4 Spiele der EM jeweils zwischen 23 und 26 Millionen Menschen aktiv am Fernseher verfolgt. Sicherlich sind das noch lange nicht alle, aber immerhin zwischen 25% und 30% der Einwohnerinnen und Einwohner Deutschlands.

Leben hier also 25 – 30 % begeisterte Fußballfans?

Mehr als nur Sport

Als Schülerin durfte ich in den 90er Jahren einige Spiele der NFL Europe im damaligen Frankfurter Waldstadion erleben. Die Fans waren überwiegend in den lila Farben der Frankfurt Galaxy gekleidet und eine eigene Big Band zog durch das Stadion, um für großartige Stimmung zu sorgen. Und genau die hatten wir. Ich gebe offen zu, ich habe damals wenig vom Spiel verstanden, aber ich hatte pro Spiel mehr als einen Gänsehautschauer, egal ob sie gewonnen oder verloren haben.

Zurück auf die EM kommend stelle ich daher provokant die Frage: Seit wann geht es bei Großveranstaltungen sportlicher Art um den Sport? Die Faszination endet doch nicht beim Spiel selbst; das gemeinsame Schauen und Mitfiebern entfaltet tiefgreifende Effekte, die weit über den Sport hinausreichen. Wir sprechen von der Fußball-WM 2006 als Sommermärchen (Endstation war das Halbfinale), die Handballer haben uns 2007 ein „Wintermärchen“ beschert mit ihrem WM-Titel im eigenen Land. Und dieses Phänomen ist auch in anderen Ländern mit anderen Sportarten zu beobachten. Nehmen wir Amerika und Baseball- bzw. Footballspiele, Eishockey im Skandinavischen oder auch Rugby in Australien … Jeder, der gerne ins Stadion geht, erlebt Menschen, die kaum Interesse am Spiel zeigen, aber die Stimmung absolut genießen.

Wenn es dabei aber nicht (oder für viele nicht) um den Sport geht – um was geht es dann?

Emotionale Bindung und positive Emotionen

Beim gemeinsamen Fußballschauen erleben Menschen eine Vielzahl an Emotionen, von Spannung und Nervenkitzel bis hin zu Freude und Erleichterung. Diese positiven Emotionen sind zentral für das Wohlbefinden. Dank unserer Spiegelneuronen im Gehirn färben die Stimmungen von anderen Menschen auf uns ab. Gleiches natürlich auch umgekehrt. Studien zeigen, dass das Erleben solcher Emotionen die Ausschüttung von Dopamin („wanting“ und Vorfreude) zunächst fördert. Bei positiven Erlebnissen folgen dann Endorphine, die zu Zufriedenheit führen. Sie lassen uns also ein Glücksgefühl empfinden und reduzieren Stress. Gemeinsame positive Erlebnisse, wie das Jubeln bei einem Tor, verstärken die emotionale Bindung untereinander und schaffen ein Gefühl der Zusammengehörigkeit.

Es wäre schön, wenn unsere Lieblingsmannschaft immer nur gewinnen würde. Es gibt aber auch den gemeinsam erlebten Frust, zum Beispiel bei Niederlagen, und weitere negative Emotionen. Doch dazu später mehr.

Sogwirkung mit Folgen

Sportliche Großereignisse begeistern auch Menschen, die sonst wenig Bezug zu Sport haben. Wenn Menschen zusammen sind und ihre Handlungen wie bei einem Ritual auf starke Symbole richten, spricht man in der Soziologie von einer kollektiven Efferveszenz, erklärt der Soziologe Jochem Kotthaus. Der Begriff Efferveszenz stammt aus dem Lateinischen und bedeutet so viel wie Erregung oder Aufbrausen. Große Emotionen werden also gemeinschaftlich erlebt.

Kotthaus lehrt an der FH Dortmund und untersucht seit fast 15 Jahren den professionellen Sport aus sozialwissenschaftlicher Perspektive. Aufgrund der starken Körperlichkeit entsteht laut Kotthaus insbesondere in Stadien, aber auch bei Public Viewing eine Art Sogwirkung: „Abstand bricht zusammen, Menschen liegen sich in den Armen. Das führt wiederum zu einer Gemeinschaft und das dann wiederum zu mehr Emotionalität. Es ist sozusagen eine Kette oder ein Zirkel“, beschreibt Kotthaus.

Beziehungen und Verbundenheit schaffen Identität

Wir erleben es gemeinsam. Nicht nur Fußball, auch andere sportliche Ereignisse vereinen Menschen aus unterschiedlichen sozialen Bereichen und mit kulturellen Hintergründen. Die gemeinsamen Erlebnisse schaffen starke soziale Bindungen und fördern das Gemeinschaftsgefühl. Wir sind füreinander da, das steigert auch die Bedeutung der einzelnen Person, stärkt ihren Selbstwert und schafft eine gemeinsame Realität. Zudem wird soziale Isolation reduziert und öffnen sich Türen. Denn ein jeder weiß, hier kann ich dazu kommen und bin dann ein Teil dieses System. Positive soziale Bindungen sind essenziell für die psychische Gesundheit und damit im Umkehrschluss auch für das allgemeine Wohlbefinden.

Das neuronale Netzwerk, das für soziale Interaktionen verantwortlich ist, wird dabei aktiviert und stärkt die Empathie und das Verständnis füreinander. Spiegelneuronen spielen eine zentrale Rolle, indem sie die Emotionen und Handlungen anderer Menschen widerspiegeln und so die emotionale Verbundenheit vertiefen.

Letzten Endes ist es genau das, was wir in Unternehmen auch erleben möchten. Wir kommen mit verschiedensten Hintergründen, Wissensständen und kulturellen Backgrounds zusammen und ziehen dann gemeinsam an einem Strang. Doch genau das ist eine tägliche Herausforderung für Führungskräfte, HRler und Personaltrainer – die Entwicklung von Teams, die Förderung von Talenten und das Zusammenspiel individueller Stärken.

Erfolg und Zielerreichung

Die Fans und auch die Gelegenheitszuschauer haben bei weitem nicht dafür trainiert, aber sie antizipieren ebenfalls. Denn im Falle eines Erfolgs sind doch schließlich wir alle „Europameister“, oder? Wir haben die letzten Wochen mitgefiebert, gelitten und gejubelt. Sind übermüdet ins Büro gegangen, haben übernächtigte Kinder morgens motiviert, wieder in die Schule zugehen, auch wenn sie viel später als sonst im Bett waren. Und von Spiel zu Spiel werden mehr Fähnchen sichtbar und immer mehr Menschen trauen der Mannschaft etwas zu.

„Wir sind zusammen Groß“, singen die Fantastischen Vier in einem ihrer Lieder. Genau diese Identität erleben wir im Sport. Gewinnt eine Nationalmannschaft, sind „wir“ plötzlich Weltmeister, Olympiasieger oder Europameister. Und in dem Fall haben viele kollektiv genau daraufhin gearbeitet. Die Mannschaft mit dem Team der Physios, Trainer, Strategen, Materialwärter, Busfahrer, Köche, Organisatoren, Sicherheitsdienste, Familien … und wer sonst noch alles an einem solchen Erfolg Teil hat, haben hart daran mitgearbeitet.

Engagement und die Bedeutung individueller Stärken

Das Mitfiebern bei einem Fußballspiel verlangt vollen Einsatz und Hingabe. Menschen tauchen vollständig in das Spielgeschehen ein und erleben einen Zustand des „Flows“. Sofern das Spiel nicht komplett langweilig ist, vergessen die Fans Zeit und Raum und lenken sich voll Alltag ab.

Hinzu kommt eine Demonstration heterogener Fähigkeiten, die von einem homogenen Team eingesetzt werden sollen. Denn vor allem beim Mannschaftssport gibt es nicht nur taktisch gesehen unterschiedliche Positionen. Individuelle Fertigkeiten, Techniken und auch körperliche Voraussetzungen sind optimal für spezielle Positionen: Der Torwart muss reaktionsschnell sein, der Stürmer braucht Präzision und Schnelligkeit, und der Verteidiger muss strategisch denken, am besten vor dem Stürmer der gegnerischen Mannschaft wissen, was diese machen möchte, und darf zwar schnell, aber auch robust sein.

Wir erleben einzelne Spieler, deren Position zum Beispiel Rechtsaußen ist, die aber im Dienst der Mannschaft in die Mitte wechseln. Stürmer holen sich von hinten bzw. aus dem Mittelfeld selbst Bälle, gehen mit nach hinten in die Abwehr und bringen sich ein. Der Torwart verlässt seine Position und verstärkt kurz vor dem Abpfiff für den letzten Angriff das Team im gegnerischen Strafraum.

Die Spieler gehen bis an ihre persönliche Leistungsgrenze, anders ist es nicht zu erklären, dass durchtrainierte Spitzensportler gegen Ende des Spiels am Boden sitzen und gegen Muskelkrämpfe in den Beinen kämpfen.

Und auch beim gemeinsamen Schauen und Diskutieren eines Spiels werden diese Stärken, diese Eigenschaften und auch das Engagement erkannt und wertgeschätzt. Auch das schafft Gemeinsamkeiten, fördert Wertschätzung und steigert das kollektive Wohlbefinden.

Rollenklarheit – Plötzlich Gegner auf dem Platz

Toleranz und vor allem Klarheit in ihrer Rolle können wir ebenfalls von Fußballern lernen. Denn während einige Spieler im Verein gemeinsame Ziele verfolgen, Titel gewinnen und wöchentlich Freud und Leid erleben, treffen sie in Spielen mit der Nationalmannschaft auf genau diese Freunde wieder. Allerdings sind sie nun Gegner.

Während vor dem Spiel noch miteinander geschäkert wird, wird währenddessen unerbittlich gegeneinander gefightet. Und am Ende werden nicht nur die Trikots getauscht, die Gewinner trösten die Verlierer, nehmen sie in den Arm, klopfen ihnen auf die Schulter und sprechen ihnen gut zu. Es kann in K.o.-Runden nur ein Siegerteam geben. So sind die Regeln und wer nicht damit umgehen kann, sollte nicht antreten. Niemand verliert gerne, zumal wenn die Protagonisten des Spiels alles gegeben haben.

In solchen Spielen lernen wir auch den Umgang mit vermeintlichen Ungerechtigkeiten. Wie oft ist zu hören, die einen waren die spielerisch bessere Mannschaft, aber die anderen haben die Tore geschossen? Sport fordert uns, nicht nur emotional, sondern auch unser Wertesystem. Es ist wichtig, dass wir lernen, damit umzugehen, denn das stärkt beispielsweise unsere Resilienzfähigkeit.

Umgang mit Rückschlägen

Denn was passiert, wenn wir während des Spiels gemeinsam auf das nächste Tor hin fiebern. Wenn wir bis zur letzten Minute hoffen, dass es doch noch ein Erfolg wird. Wir vielleicht zwischendrin Erleichterung erfahren, weil ein Ausgleichstreffer gefallen ist? Wir halten zusammen – oder zumindest erwarten wir das vom Team. Wir erwarten, dass sie bis zum Abpfiff alles geben, kämpfen und sich einsetzen. Dass sie selbst noch daran glauben, das Spiel zu drehen. Und spannenderweise konnte man all dies ja im Fußball auch schon erleben.

Gemeinsame Rückschläge im Fußball, wie Niederlagen oder das Ausscheiden aus einem Turnier, bieten eine einzigartige Gelegenheit, Teamdynamiken und individuelle Resilienz zu stärken. Der kollektive Umgang mit solchen Rückschlägen kann die Bindungen innerhalb der Gruppe festigen und das Vertrauen in die gemeinsamen Fähigkeiten stärken.

Dabei spielen emotionale Unterstützung und soziale Bindungen eine zentrale Rolle. Teams, die gemeinsam Rückschläge erleben, bieten ihren Mitgliedern emotionale Unterstützung durch gemeinsame Gespräche, geteilte Emotionen und kollektive Bewältigungsstrategien. Soziale Bindungen werden durch das Teilen von negativen Erfahrungen intensiviert, was langfristig zu einer stärkeren Kohäsion, also zu einem inneren Zusammenhalt führt.

Aufbauen statt verurteilen – Fehlerkultur im Team

Diese Unterstützung können wir wunderbar beobachten, wenn einem Torwart ein Fehler unterlaufen ist oder ein Stürmer den Ball vorbeigeschossen hat. Ob aus dem Spiel heraus oder – noch schlimmer – bei einem Elfmeter. Das sichergeglaubte Tor ist ausgeblieben. Doch der Spieler wird in der Regel von den eigenen Mannschaftskameraden aufgebaut. Auf der Tribüne wiederum erlebt man bei den Fans eher das Gegenteil. Von Buhrufen über Beschimpfungen bis hin zur festen Meinung, dass man schon vorher wusste, dass der Spieler nichts draufhabe, erlebt man die gesamte Bandbreite.

Und dann gibt es den immer unzufriedenen Besserwisser. Ich bin ja der Meinung, wer beim immer alles besser weiß, den Schiedsrichter anzählt, Entscheidungen nicht akzeptieren kann, alle Entscheidungen auf sich persönlich bezieht und sich dann auch noch ständig benachteiligt fühlt, der erzählt in diesen Momenten so viel mehr über sich selbst als über jeden anderen. Wer beim Sportschauen respektlos, unfair und undifferenziert ist, der zeigt dieses Verhalten mit größter Wahrscheinlichkeit auch irgendwann im Arbeitsleben. Sicherlich sorgen diese besonderen Emotionen für den ein oder anderen Ausnahmezustand bei Menschen. Aber wir kommen auch beruflich in schwierige Situationen und dann ist es sehr hilfreich zu wissen, wie andere Menschen reagieren werden.

Damit möchte ich nicht das Fußballschauen zum Orakel machen. Doch wenn ein ausgebildeter Schiedsrichter, der nicht nur von zwei weiteren Linienrichtern, sondern auch von einem Video-Schiedsrichter unterstützt wird, eine Entscheidung trifft, dann haben Zuschauende dies zu akzeptieren. Selbst dann, wenn es doch einmal zu einer tatsächlichen Fehlentscheidung kommt. Diese Unart des Besserwissens führt nicht gerade zu einem wertschätzenden Umgang. Drohungen wie „Schiri, wir wissen wo dein Auto steht“ sind überflüssige Machtgebaren. Wer das nicht akzeptieren kann, zeigt eine wichtige Seite von sich, die mitunter im Kollegenkreis und auch in der Akzeptanz gegenüber Führungskräften und Autoritäten schwierig sein kann.

Zusammenrücken und Toleranz leben – und wenn der Sport uns das lehrt

Das für Deutschland in dieser EM entscheidende Spiel gegen Spanien habe ich freitagabends am Flughafen erleben dürfen. Ein kleiner Bildschirm an einem Gate musste ausreichen, Ton gab es keinen. Aber dennoch standen wir vereint davor und schauten zu. Wir? Das waren sowohl Fans der deutschen als auch der spanischen Mannschaft. Und jubelten die Spanier, schauten sie sich zugleich um und checkten die Reaktionen der Deutschen ab. Gleichzeitig gab es keine Siegesgesten oder Ähnliches beim Tor der Deutschen gegenüber den spanischen Anhängern.

Wir waren Reisende, die dort zusammenkamen, auf einen Bildschirm schauten und unterschiedliche Interessen verfolgten. Eingreifen konnten wir alle nicht und es gab auch nur diesen einen Bildschirm. Somit haben wir gemeinsam geschaut, Blicke ausgetauscht, uns gefreut und dabei Verständnis für den Kummer der anderen gehabt. Ein Bildschirm mit einem Spiel hat uns in dieser Situation vereint. Und genau darin liegt die Kraft.

Ok, der Pilot hat alle deutschen Hoffnungen über den Wolken dann zunichte gemacht. Die Enttäuschung flog in die verschiedensten Richtungen. Bei den anderen war es der Jubel.

Aber der gemeinsame Moment bleibt bzw. fliegt mit und wirkt noch lange nach.

Dasselbe gilt für das Gemeinsame in Teams, das vorhanden ist, gelebt wird, gar nicht genug gefördert werden kann und zu meisterlichen Leistungen anspornen kann. Es können – und müssen – nicht immer gemeinsame Erlebnisse mit positivem Ausgang sein. Ausscheiden wird nie Chance, als Team daran zu wachsen und individuell in seinen eigenen Stärken aufzugehen.